Fokus auf Blasen- und Beckenbodenfunktionsstörungen: Dr. Lenz ist seit 2019 u. a. niedergelassener Gynäkologe in Mannheim und bietet in seiner Praxis eine urogynäkologische Sprechstunde an. Im Interview hat er uns erzählt, welche Patientinnen zu dieser speziellen Sprechstunde kommen und warum er sie anbietet.
Was versteht man unter Urogynäkologie?
Als Urogynäkologe habe ich einen gynäkologischen Fokus auf Blasen- und Beckenbodenfunktionsstörungen, ich schaue also über den Tellerrand der reinen Beckenbodenfunktionsstörung hinaus.
Ich halte es für überaus wichtig, interdisziplinär zu arbeiten, um den Patientinnen adäquat helfen zu können. Im Studium war es noch so, dass man in der urologischen Fachausbildung die Blase betrachtet hat und die Behandlung des Beckenbodens ausschließlich in der Gynäkologie verankert war. Es wurde rein anatomisch und fachspezifisch vorgegangen und eben nicht fachübergreifend.
Es gibt auch schon Kooperationen zwischen den Fachverbänden der Gynäkologen und Urologen, aber eine gemeinsame interdisziplinäre Sprechstunde sollte eigentlich zur Regel werden, weil davon Patientin und Arzt profitieren.
In Ihrer Praxis bieten Sie eine urogynäkologische Sprechstunde an. Wie sieht sie aus und warum können Sie im ein oder anderen Fall besser helfen als ein „normaler“ Gynäkologe oder Urologe?
Ich halte es für sehr wichtig, Patientinnen individuell zu behandeln und eben bei bestimmten Diagnosen auch die Meinung meines Kollegen, dem Urologen Dr. med. Cornelius Geil-Bierschenk einzuholen. Deshalb bieten wir eine gemeinsame Sprechstunde an.
Was ist die häufigste Ursache für Harninkontinenz?
Die häufigsten Ursachen für die Entstehung einer Belastungsinkontinenz sind eine Bindegewebsschwäche sowie Lungenerkrankungen, die zu häufigem Husten führen und dadurch eine Inkontinenz verschlechtern können. Bei der Dranginkontinenz spielen Alter und Geschlecht eine große Rolle. Je älter Frauen werden, desto mehr kommt eine Bindegewebsschwäche im Beckenboden zum Tragen. Es sind häufiger Frauen betroffen. Geburten sorgen natürlich auch dafür, dass man inkontinent werden kann. Aber regelmäßiges Beckenboden-Training hilft gegenzusteuern. In ganz schweren Fällen kann man aber auch operativ eingreifen und z. B. das genannte Blasenbändchen einsetzen. Es ist also nie ganz hoffnungslos.
Woher die Dranginkontinenz kommt, weiß man in vielen Fällen nicht genau. Es liegt häufig eine Kommunikationsstörung zwischen Gehirn und Blase vor, sodass beispielsweise neurologische Erkrankungen eine Dranginkontinenz begünstigen.
Was kann man als Patientin gegen Harninkontinenz tun?
Ich schicke meine Patientinnen nach der Geburt gerne zu speziell ausgebildeten Physiotherapeuten, die sich auf das Beckenbodentraining spezialisiert haben. Ein guter, stabiler Beckenboden ist das A und O. Ich bitte meine Patientinnen auch immer, eine Art Tagebuch zu Trinkverhalten sowie Toilettengängen zu führen. Diese Dokumentation ist in Bezug auf die Diagnostik aber auch eigene Verhaltensmuster sehr hilfreich.
Wie viele Frauen sind nach einer Geburt von Harninkontinenz betroffen?
23% der Frauen haben nach einer Geburt das Problem, den Urin nicht gut halten zu können. Die Scheide wird aufgrund der Ausdehnung ebenfalls weiter. Bei gutem Bindegewebe und den entsprechenden Übungen kann man annähernd den „Ursprungszustand“ seines Körpers wiederherstellen. Es gibt aber natürlich Fälle, in denen es nicht so gut klappt und diese Frauen z. B. nicht mehr Trampolin springen können, ohne Harn zu verlieren. Das gleiche gilt für das Husten und Niesen. Es gibt aber immer Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen. Keine Frau muss danach Windeln tragen, wenn sie das nicht möchte.
Kommen die Patientinnen überwiegend direkt zu Ihnen oder werden Sie von Kolleg:innen aus der Allgemeinmedizin, Gynäkologie oder Urologie überwiesen?
Tatsächlich bekomme ich Überweisungen aus all den genannten Gruppen, weil mich viele als Experte der Urogynäkologie kennen. Es ist ein sehr spezifischer Bereich. Die Anzahl der Patientinnen zeigt mir, dass es richtig war, dieses Fachgebiet weiterzuverfolgen. Ich bin ein Verfechter, mich mit Kolleginnen und Kollegen interdisziplinär auszutauschen, um das bestmögliche Ergebnis für die Patientinnen zu erzielen.
Warum kommen viele Patientinnen erst mit „großen Leidensdruck“ zu Ihnen?
Der Leidensdruck wird immer noch sehr unterschiedlich wahrgenommen. Inkontinenz war früher noch mehr Tabuthema als heute. Ich merke da schon einen Wandel. Die Patientinnen sprechen viel offener über ihre Probleme, und das ist ja auch gut so.
Viele sind an einem gewissen Punkt nicht mehr bereit, die Einschränkung in ihrer Lebensqualität hinzunehmen und möchten daran etwas ändern. Manche Frauen kommen sehr schnell zu mir, andere erst nach Jahren – das ist ganz unterschiedlich.
Haben Sie eine aufmunternde Botschaft für betroffene Frauen, die Ihrer Krankheit noch nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken?
Es gibt sehr viele Frauen, die vermutlich ein ähnlich gelagertes Problem haben. Wichtig ist: Man kann immer etwas dagegen tun, sei es mit Training oder operativ. Das hängt schlicht vom Schweregrad ab.
Darüber aufzuklären hilft in jedem Fall. Dafür bin ich da, meine Kolleginnen und Kollegen ebenfalls.
Ich denke, es gibt tatsächlich fast nichts, was wir im Bereich Inkontinenz und Beckenboden nicht schon von den Patientinnen gehört oder gesehen haben.
Wie eng arbeitet Ihre Praxis mit Kontinenzzentren zusammen? Überweisen Sie Patientinnen an Kontinenzzentren oder bieten Sie mit der urogynäkologischen Sprechstunde ein identisches Angebot?
In der urogynäkologischen Sprechstunde arbeiten meine Kollegen und ich interdisziplinär, so dass wir wie ein Kontinenzzentrum funktionieren. Ich kooperiere dazu noch mit einer Klinik und biete dort eine Sprechstunde an. Das Netzwerk ist also da, um Patientinnen optimal zu betreuen.
Ich bin sehr froh, dass wir landesweit eine gute Abdeckung mit Kontinenzzentren oder eben entsprechenden Ärzten haben.
Wie zufrieden sind Sie aktuell mit der Versorgung mit Inkontinenzhilfen für Versicherte in Deutschland? Was müsste aus Ihrer Sicht verbessert werden?
Momentan bin ich zufrieden mit der Versorgung. Die Krankenkassen erstatten in der Regel Produkte, wenn auch nicht die teureren Marken. Teilweise müssen Patientinnen wenige Kosten auch selbst übernehmen, aber das hat sich die letzten Jahre nicht geändert.
Wie viel Aufmerksamkeit erfährt das Thema Urogynäkologie in Deutschland? Gibt es ausreichend Ärzte mit diesem Schwerpunkt, Zentren zur Behandlung, Aufklärung unter Patientinnen etc.?
Mit der AGUB, der Arbeitsgemeinschaft für Urogynäkologie und plastische Beckenbodenrekonstruktion e. V. haben wir eine Gesellschaft geschaffen, der weiter in diesem Bereich forscht und sich vernetzt. Insgesamt sind dort 53 Expert:innen registriert. Wir haben deutschlandweit keine blinden Flecken, was mich sehr freut.
Herzlichen Dank für das Gespräch !